R. Brändle u.a.: Huggenberger. Die Karriere eines Schriftstellers

Cover
Titel
Huggenberger. Die Karriere eines Schriftstellers


Autor(en)
Brändle, Rea; König, Mario
Reihe
Thurgauer Beiträge zur Geschichte 148/149
Erschienen
Frauenfeld 2012: Historischer Verein des Kantons Thurgau
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Urs Hafner, Historiker und Journalist

Hätten die Schweizerischen Bundesbahnen im Jahr 2006 nicht in Erwägung gezogen, einen Zug auf seinen Namen zu taufen, aber dann doch davon abgesehen, wäre die stattliche Studie wohl kaum entstanden: Die vom Kanton Thurgau in Auftrag gegebene und von der Germanistin Rea Brändle und dem Historiker Mario König verfasste Werkbiographie zu Alfred Huggenberger. Sie soll, so ihr vordringlichstes Ziel, endlich Klarheit schaffen zu dessen Verhältnis zum Nationalsozialismus.

Alfred Huggenberger? In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Thurgauer Schriftsteller, der in Gerlikon ob Frauenfeld lebte, eine im gesamten deutschen Sprachraum anerkannte und bewunderte literarische Grösse. Einige seiner dem Genre der Heimatliteratur zuzurechnenden Bücher – Romane, Erzählungen, Gedichte, Theaterstücke – wurden bis zu 40'000 Mal aufgelegt, seine Gedichte gehörten in der Schweiz noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Schulstoff. Huggenberger bestritt gut besuchte Lesetourneen, er wurde in Illustrierten porträtiert und trug seine Texte im Radio vor. Auch dank der aufopferungsvollen Unterstützung seiner Frau konnte er es sich leisten, sich mehrheitlich dem Schreiben zu widmen und nur noch nebenher auf dem bäuerlichen Hof mitzuhelfen. Bevor er Autor wurde, hatte er seinen Lebensunterhalt als Bauer verdient; aufgewachsen war er gar in kleinbäuerlichen Verhältnissen. Sein Grossvater soll Analphabet gewesen sein.

Einen beachtlichen sozialen Aufstieg also legte der 1867 geborene Autodidakt hin – einen Aufstieg, der nicht von ungefähr kam. Da war gewiss die Gunst der Stunde: Ein grosses Publikum, das zu Beginn des katastrophischen 20. Jahrhunderts an den Geschichten aus dem bäuerlichen Milieu Gefallen fand. Man konnte die Schilderungen des einfachen Landlebens als Rückzugsbewegungen in eine heile Welt lesen, die vor den Zumutungen der Moderne, vor Industrialisierung, Verstädterung, Pauperismus und Sozialismus geschützt war; zunehmend bediente Huggenberger dieses Bedürfnis seines Publikums. Vor allem aber arbeitete er selbst unermüdlich, ja verbissen an seinem Aufstieg. Brändle und König zeichnen das wenig sympathische Charakterporträt eines übermässig ehrgeizigen und tendenziell opportunistischen Mannes, dem der Erfolg mehr bedeutete als Freundschaften und vertragliche Vereinbarungen mit Geschäftspartnern. Kritik vertrug Huggenberger sowieso nicht; wer wagte, an seinen Texten etwas auszusetzen, hatte es mit ihm verdorben.

Die Unhaltbarkeit des Bildes aufgezeigt zu haben, das Huggenberger der Öffentlichkeit erfolgreich von sich vermittelte, betrachten die beiden Autoren denn auch als das Hauptergebnis ihrer höchst fundierten, auf Archivrecherchen beruhenden Studie. Er war nicht der lange verkannte bäuerliche Aussenseiter, der still vor sich hinschrieb, bis er endlich, gegen den Dünkel und den Widerstand des literarischen Establishments, entdeckt wurde und den ihm zustehenden Ruhm ernten durfte. Vielmehr suchte er diesen um jeden Preis. Zum Nachteil seines Schaffens kopierte er sich zunehmend selbst und schrieb seine erfolgreichen Stücke leicht um, um schnell zu neuem Stoff zu kommen. Gleichzeitig bediente er das Publikum mit dem Klischee seiner selbst als des schollenverhafteten und naturverbundenen Bauerndichters, der er eigentlich nicht hatte sein wollen und anfänglich auch nicht war. Dem Erfolg zuliebe streifte er diese Maske, die ihm von oberflächlichen Rezensenten übergestülpt worden war, nie mehr ab. Dabei hatte er als junger Mann vor allem gelesen und systematisch die Klassiker der Weltliteratur studiert, die er sich in Frauenfeld beschaffen konnte.

Die Phase, in der Huggenberger qualitativ hochstehende Texte produzierte, währte kaum länger als ein Jahrzehnt. Als sein gelungenstes Werk erachten Brändle und König den 1912 publizierten Entwicklungsroman «Die Bauern von Steig». Er erzählt aus einer zweifachen Ich-Perspektive, der des Erwachsenen und der des Kindes – was die Autoren als eine riskante, aber geglückte literarische Technik bezeichnen –, in einer für kindliche Erinnerungen hochsensiblen Sprache die Lebensgeschichte eines Verdingkindes, dem zwar viel Schlimmes widerfährt, aus dem aber trotzdem ein tüchtiger junger Mann wird, der die Liebe einer Frau gewinnt und der schliesslich den verlorenen Hof seiner Eltern zurückkaufen kann. Dem Zahn der Zeit getrotzt hätten daneben auch einige Erzählungen und Gedichte, nicht jedoch die Mehrheit der Huggenbergerschen Texte. Am Ende habe er sich in den kaum mehr überblickbaren Modifikationen seiner Texte verzettelt.

Und Huggenbergers Verhältnis zum Nationalsozialismus, dessen Kunstideal der Heimatkunst nahe stand? Das Verhältnis entspricht im Grossen und Ganzen dem, was schon bekannt war; Huggenberger war nicht nationalsozialistisch gesinnt, sondern rechtsbürgerlich und – schon im Ersten Weltkrieg – pointiert deutschfreundlich. Er war ein eifriger Zeitungsleser und Mitglied der Freisinnigen, aber kein politisch sensibler Mensch. Er muss zwar gewusst haben, was sich seit 1933, seit der Machtübergabe an Hitler, im nationalsozialistischen Nachbarland abspielte, aber die dunklen und immer dunkleren Seiten der Diktatur, den Antisemitismus und den Terror, blendete er aus. Seine Feinde waren die Linke und der Kommunismus. Sein Beitritt zum Reichsverband Deutscher Schriftsteller und der Europäischen Schriftstellervereinigung (auch sie eine deutsche Organisation), der 1937 publizierte Roman «Die Schicksalswiese», der sich der Blut-und-Boden-Literatur andiente, die zahlreichen Lesereisen, die er bis Ende 1942 in Deutschland bestritt, die zwei deutschen Preise, die er 1937 und 1942 entgegennahm – all dies tat der Schriftsteller nicht aus einer bestimmten politischen Gesinnung heraus, sondern für seine Publizität und den Erfolg. Er wollte für seine Bücher neue Leser gewinnen. Nie ist nach dem Krieg auch nur ein Wort der Selbstkritik oder des Bedauerns über seine Lippen gekommen. Er sei, so der Eindruck der Autoren, versteinert.

Dass Brändle und König sich mit dem 1960 verstorbenen Huggenberger intensiv auseinandergesetzt haben, merkt man jeder Zeile des übersichtlich gegliederten und bestens formulierten Buchs an, das einen tiefen Einblick in die schweizerische und deutsche Literaturszene der ersten Jahrhunderthälfte gibt und zudem mit einem informativen Anhang aufwartet (darunter ein Werkverzeichnis). Sie halten mit ihrem Befremden über Huggenbergers Charakterzüge nicht zurück, bemühen sich aber ohne die Arroganz der Nachgeborenen um ein angemessenes Urteil. Ein Defizit ist einzig, dass die Weltdeutung des Protagonisten über das Politische im engeren Sinn hinaus etwas unterbelichtet bleibt – Weltdeutung im wissenssoziologischen Sinn eines sozialen Deutungsmusters. Auch von den literarisch schwächeren und heute kitschig anmutenden Texten würde man gerne wissen, was für eine Sicht der Wirklichkeit in ihnen zum Ausdruck kommt. Huggenberger sei nicht bäuerlich, sondern bürgerlich gesinnt gewesen, heisst es abschliessend, aber diese erstaunliche Differenz wird nicht weiter ausgeführt. Was bedeutet sie für seine Deutung etwa der Natur, der Landwirtschaft, des Verhältnisses von Natur und Kultur oder des Status der Tiere? Und was bedeutete sein Wechsel von einer bäuerlichen zu einer bürgerlichen Sicht der Welt? Dass die umfassende Studie nicht alle Fragen beantwortet, mag für alle, die selbst an einer Untersuchung arbeiten, ein Trost sein.

Zitierweise:
Urs Hafner: Rezension zu: Rea Brändle, Mario König: Huggenberger. Die Karriere eines Schriftstellers (Thurgauer Beiträge zur Geschichte 148/149). Verlag des Historischen Vereins des Kantons Thurgau, Frauenfeld 2012.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit